Guten Tag, meine Damen und Herren,
ich glaube, zunächst sollte ich Ihnen erklären, warum ausgerechnet ich hier stehe und die Laudatio halte. Annette und Gerhard Göschel hielten das für eine hübsche Idee. Denn damals im Jahr 2000 soll ich es gewesen sein, der auf der ersten Hofkultur eine Rede hielt. Damals noch genau unter uns im ehemaligen Schweinestall, der als Galerie hergerichtet war. Das nennt man ein Aufstieg: zwei Meter in fünfzehn Jahren! Auch soll der Begriff „Hofkultur“ selbst auf meine Anregung zurückgehen. Da wäre es doch schön, dachten die beiden, wenn ich diesen Reigen wieder beschliessen und auch auf der letzten Hofkultur sprechen würde. Leichtsinnigerweise sagte ich zu.
Erst mit der Zeit realisierte ich, auf was für eine delikate Angelegenheit ich mich da eingelassen hatte. Schliesslich geht es um die paradoxe Mission, einen „Nachruf zu Lebzeiten“ zu halten. Schwierig, ich darf ja nicht einmal aus dem Nähkästchen plaudern. Der Totgesagte ist quicklebendig und hört zu...
Wenigstens aber das glaube ich verraten zu dürfen: Die Idee zum Namen Hofkultur beruht auf einem halben Scherz. Wir befinden uns hier schliesslich auf einem alten Bauernhof und da schien mir die Folgerung erlaubt zu sein, dass der Hausherr, Gerhard Göschel, genau besehen doch nichts anderes sei als ein Hofkünstler...
Natürlich war das ironisch gemeint. Von seinem ganzen Selbstverständnis her wollte Gerhard Göschel immer alles andere sein – nur kein Hofkünstler. Deren Aufgabe war es ja am Fürstenhof Kunst zu treiben, um den Mächtigen das Leben so erträglich wie irgend möglich zu machen und deren Macht zu verherrlichen. Nichts läge unserem Gastgeber ferner.
Auch ist die Hofkultur des Galmer Hofkünstlers Gerhard Göschel eine ganz andere als die Hofkultur des Adels vergangener Zeiten. Da musste man daran teilnehmen, wenn man nicht in Ungnade fallen wollte. Da sieht man wie weit wir gekommen sind. Heute haben sich die Künstler emanzipiert, sie sind es, die Hof halten... Und das Beste: Wir, die Besucher, kommen ganz freiwillig her (hoffe ich zumindest). Dafür nehmen wir durchaus Strapazen auf uns – mehr j.w.d., mehr „janz weit draussen“ als der Galm ist ja kaum möglich.
Ebenso demokratisch ist der Umgang mit der Kunst. Während man am Fürstenhof, wie auch heute im Museum oder in einer Galerie, in der Regel nur flüsternd und ein bisschen ehrfürchtig der Kunst ausgeliefert war, ist es auf dem Galm ganz anders. Hier hört man, spricht man, lacht man laut über Kunst – oder auch über ganz und gar andere Dinge. Hier ist niemand nur stiller Betrachter. Und die Künstler sind mittendrin. Jeder spürt: Hier gehört alles zusammen.
Warum das so ist, warum das all die Jahre so war – das muss ich gestehen – habe ich erst jetzt so richtig verstanden. Und dafür muss ich mich bei Birgit Borggrebe bedanken. Sie stellt heute gemeinsam mit Gerhard Göschel aus. Ihre Bilder, die sich hier wunderbar in den Raum fügen, sind Mischwesen, sowohl was die Technik angeht: Malerei, Siebdruck, Zeichnung, Photographie werden in ihren Bildern kombiniert, wie das auch für die Inhalte gilt: Die harte, abstrakte Welt unserer Städte, der globalisierten Moderne wird konterkariert mit der konkreten Natur in ihren Restbeständen: ein Baum hier, eine Herde Ziegen dort, doch selbst die Wolken leuchten in verdächtigen Farben. Birgit Borggrebes Bilder sind, wenn man so möchte, Kaleidoskopien, poetische Begegnungen mit einer alptraumhaften Wirklichkeit, die bald schon immer grössere Teile dieses Planeten umfassen könnte. Aus ihnen atmet etwas, das als ein ästhetischer Protest verstanden werden kann, dass unsere Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Auch wenn es seltsam klingt, diese phantastisch-apokalyptischen Landschaften, die wir auf ihren Bildern sehen, durchweht etwas, das als eine „Sehnsucht nach dem Paradies“ beschrieben wurde. Und das machte mich hellhörig.
Ist Ihnen nicht aufgefallen, als Sie heute hereinkamen: Über dem Tor zum Galm wacht tatsächlich ein Engel, gleich links in der Höhe. Ganz so wie vorm biblischen Garten Eden. Nur dass dieser Engel so freundlich war, uns eintreten zu lassen – in dieses Paradies, gelegen im hintersten Winkel des Havellandes.
Denn ist das nicht die Hofkultur? Ein kleines Paradies. Zumindest ein Paradies auf Zeit, ein Paradies für einen Tag. Vor allem eines, aus dem man nicht gleich hinausgeworfen wird, nur weil man der Verlockung nicht widerstehen kann, einen Apfel zu stibitzen. Ich habe es vorhin noch selbst probiert...
(Bloss habe ich festgestellt, ist seither die Tür zum Obstgarten verschlossen – ich hoffe, mein kleiner Obst-Raub ist nicht schuld daran.)
Wie es der Zufall will, bin ich in den letzten Jahren zu einem Experten in Sachen Paradies geworden. Gemeinsam mit dem Evolutionsbiologen Carel van Schaik habe ich die Bibel gelesen, nicht als Wort Gottes, wohl aber als ein Tagebuch der Menschheit. Wir wollten herausfinden, welche Geheimnisse das Alte und das Neue Testament über den Menschen selbst. Und dabei haben wir eine Reihe von Entdeckungen gemacht, die verstehen helfen, was es mit der Kunst im Allgemeinen und der Galmer Hofkultur im Besonderen auf sich hat.
Nein, keine Bange, so wie ich hier keine Trauerrede halte, werde ich nicht zu predigen beginnen. Es geht um völlig weltliche Dinge. Um das, was man aber trotzdem durchaus zutreffend als ein Heimweh nach dem Paradies beschreiben kann. Um dieses oft nur halbbewusste Gefühl, das die meisten von uns kennen, dass unsere Alltagswelt nur selten so ist, wie sie sein sollte, dass es sich immer mal wieder anfühlt, als lebten wir ein verkehrtes Leben. Und dieses Gefühl täuscht nicht.
Es ist schon erstaunlich: Die Bibel erzählt genau das. Gott hat die Menschen für den Garten Eden gemacht. Überraschenderweise müssen die Menschen dann – Sie erinnern sich an die Geschichte mit der Schlange und dem Apfel (zeigen) – jenseits von Eden leben. Das heisst, in einer Welt für die sie nicht gemacht sind – und das wirft jede Menge Probleme auf. Das erste Buch der Bibel, die Genesis erzählt es: die Menschen müssen nicht nur im Schweisse ihres Angesichts schuften, sondern fristen fortan ihr Dasein in einer Welt, in der es drunter und drüber
geht: der Bruder bringt den Bruder um, die Frauen werden unterdrückt, die Menschen treiben es so wild, dass Gott sie alle ertränkt, der Turmbau von Babel endet im Fiasko und auch die Geschichten der Patriarchen von Abraham, Isaak und Co. erweisen sich bei genauer Lektüre als eine Anhäufung von Zank und Zwietracht, Mord und Totschlag, Sodom und Gomorra. Übrigens: Sollten Sie skeptisch sein: Sie können es gleich gerne selbst hier nachschlagen, das Buch der Bücher liegt hier zu meiner Linken.
Und die Bibel hat recht. Wir Menschen leben tatsächlich in einer Welt, für die wir nicht gemacht sind. Das wird ihnen jeder Evolutionsbiologe bestätigen. Unsere Vorfahren lebten für Jahrhunderttausende, wenn nicht Jahrmillionen in kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern zusammen. Es gab von einigen Dingen des Alltags abgesehen keinen Besitz, und keine sonderlich ausgeprägten Hierarchien. Es herrschte kein moralischer Rigorismus, sondern die Bereitschaft zum Verzeihen, wenn auch nach langem Palaver. Man war auf die anderen angewiesen. Damals war man materiell arm, aber sozial reich. Unter diesen Bedingungen formte sich die menschliche Psychologie mit ihrer Vorliebe für Gleichheit, Gemeinschaft und Erlebnis, die uns auch heute noch auszeichnet.
Als die Menschen aber sesshaft wurden, anfingen Landwirtschaft zu treiben, später in Städten lebten, von Fürsten, Königen und Despoten beherrscht, wurden Anonymität, Ungerechtigkeit, Ungleichheit zu unserem neuen Schicksal.
Das alles ist erst wenige Jahrtausende her, eine viel zu kurze Zeit, als dass sich unsere Gefühle und Intuitionen daran hätten anpassen können. Kein Wunder, fühlen wir uns oft ohnmächtig, einsam, seltsam deplatziert, spüren wir Entrüstung über die Verhältnisse. Heute ist es umgekehrt: Wir sind materiell reich, aber sozial verarmt.
Kein Wunder also, dass wir mitunter ein Heimweh haben nach dem Paradies, nach Gemeinschaft, Gleichheit, Palaver... – und damit sind wir bei der Hofkultur und der Kunst.
Ist denn moderne Kunst nicht selbst Ausdruck dieser Sehnsucht nach dem Paradies? Entspringt Kunst nicht einem Ungenügen der realen Welt? Kritische Kunst klagt an, sagt: So nicht! Die Welt muss anders werden! Aber auch kompensatorische Kunst sagt: So nicht! Die Welt muss schöner werden, menschlicher! Kunst formuliert Alternativen zur Realität, wagt Visionen, erzeugt Gegenwelten.
Jeder künstlerische Beitrag stellt damit unsere Wirklichkeit in Frage, und sei es allein dadurch, dass er die Welt anreichert, die Menschen inspiriert, aber auch indem er Zweifel sät. Damit ist er ein Beitrag zu einer gesellschaftlichen Diskussion, ob dies das Leben ist, das wir tatsächlich führen wollen – und über diesen künstlerischen Beitrag, das Kunstwerk ist zu diskutieren, zu palavern. Der wird nicht ex kathedra verkündet. Die Zeiten des Künstlergenies sind längst passé. Kunst ist dazu da, uns zum Nachdenken anzuregen, zur Diskussion. Es geht nicht darum, herauszufinden, was uns der Künstler damit sagen will. Es geht darum, selbst auf neue Gedanken und Ideen zu kommen. Und damit sind wir bei der Hofkultur.
Annette und Gerhard Göschels grosses Verdienst ist es ja hier einen offenen, wirklich demokratischen Raum geschaffen zu haben, in dem man Kunst im wahrsten Wortsinn erlebt. Dazu muss man erst mal das Talent haben. Ich möchte das mit einer kleinen Anekdote illustrieren. Als ich Gerhard Göschel Anfang der neunziger Jahre kennen lernte – damals war er noch kein Galmer Hofkünstler –, besuchte ich ihn seiner Wohnung in Berlin Steglitz, wo er auch sein Atelier hatte. Es war noch ein befreundeter Philosoph dabei. Gerhard Göschel führte uns durch die Wohnung, wir wanderten von einer seiner Arbeiten zur nächsten, im äusserst angeregten Gespräch. Das Entscheidende daran: Keiner, der uns beobachtet hätte, hätte sagen können, wer von uns dreien der Künstler war. Niemand von uns hatte ein Deutungsmonopol. Wir alle drei kamen ins Reden und Reden und kamen auf die erstaunlichsten Dinge zu sprechen.
Und das ist auch das Wunderbare an der Hofkultur auf dem Galm: Menschen kommen ins Gespräch von gleich zu gleich.
Schon oft ist die Hofkultur als Gesamtkunstwerk bezeichnet worden: ohne die Musik wäre das alles nichts (deshalb darf in einer Laudatio der Hofkultur auch der Name des Komponisten Jörn Arnecke nicht fehlen), die vortrefflichen Arbeiten anderer Künstler wie heute die von Birgit Borggrebe befinden sich mit den Werken Gerhard Göschels in einem angeregten Dialog, dann sind da die famosen Musiker, die vielen helfenden Hände. Ihnen allen ist ganz herzlich zu danken.
Wir aber, die Besucher, sind es, die das Ganze mit Leben füllen. Wir sind keine Konsumenten, wir nehmen teil, gehören dazu. Hier verschmelzen eben nicht nur die Künste, sondern auch Kunst und Leben, Künstler und Zuschauer. Zumindest für einen Tag. Hier können wir unser Heimweh nach dem Paradies lindern. Gemeinschaft, Gespräche von gleich zu gleich erleben, oder einfach nur durch den Garten flanieren.
Solche Refugien braucht es. Das hat nichts mit Weltflucht zu tun. Im Gegenteil. Der Galm gibt uns das Gefühl, wie das Leben sein könnte. Natürlich ist das kein Dauerzustand, wohl aber ein Paradies auf Zeit, aus dem wir spätestens heute Abend (oder in den frühen Morgenstunden) vertrieben werden. Aber die Anregungen, die Erinnerungen nehmen wir mit in unsere Welt da draussen.
Einmal im Jahr durften wir bisher zurückkehren. Und deshalb ist es traurig, dass dies die letzte Hofkultur sein soll – umso mehr sollten wir den Tag geniessen. Was aber das Gute ist: Auch in Zukunft wird es hier Ausstellungen, Konzerte und andere Veranstaltungen geben, nur im kleineren Rahmen. Das heisst, wir dürfen weiterhin in dieses Paradies zurückkehren. Denn – und damit komme ich zum Ende – auch der Kunsthof Galm mag von einem Engel bewacht werden, doch anders als jener Engel, der vorm Garten Eden der Bibel postiert wurde, trägt dieser kein flammendes Schwert und verwehrt uns auch in Zukunft nicht den Zutritt.
Ich schliesse also mit einer guten Nachricht: Das Paradies bleibt geöffnet.
Herzlichen Dank!
Kai Michel, Autor und Wissenschaftsjournalist am 3. September 2016
"….Ich bin hier – und staune. Ganz aktuell natürlich über den neuen Veranstaltungsraum, den ich noch als Baustelle kenne: Er hat Form, und er funktioniert. Respekt! Vor allem aber staune ich darüber, wie hier Lust auf die Gegenwart gemacht wird – und dass es hier so viele Menschen gibt, die sich Lust aufs Zeitgenössische machen lassen.
Ich staune, weil wir Zeitgenossen einer Gegenwart sind, in der eher die Respektlosigkeit gegenüber dem Neuen opportun zu sein scheint. Nicht in Wissenschaft, Wirtschaft und Technik, wohl aber auf dem weiten Feld der Kultur….
In der Tat ging der Abkehr vom Kanon, den die Jahrhunderte gefügt hatten, eine totale Erschütterung des Weltbildes voraus. Erschüttert hatten es Plancks Quanten- und Einsteins Relativitätstheorie, Freuds „Traumdeutung“, die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges, Hitlers Völkermord. Und gleich zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde unser Weltbild durch den Terror des 11. September 2001 erschüttert und erst jüngst wieder durch Fukushima, Finanz- und Eurokrisen. Wieder mit dem Resultat, dass das, was wir als Gewissheiten gehandelt haben, in Fragmente zersplittert ist.
Keine Frage, das erzeugt Unbehagen. Wir haben Schwierigkeiten mit der Wahrheit, dass es viele Wahrheiten gibt und der Fortschritt ein Albtraum sein kann. Zumal in unseren modernen Zeiten nicht mal mehr die Viren bleiben, was sie waren und dreist online gehen.
Eine Möglichkeit ist, sich in diesem Unbehagen zynisch zu suhlen. Die andere ist, diesem Unbehagen Luft zu machen oder besser noch: das, was das Dasein unbehaglich macht, beim Namen zu nennen. Gerhard Göschel tut das. Er ist so weit! Das Maß seines Zorns ist voll. So voll, dass er sich inzwischen nicht mehr scheut, Plakate hoch zu halten. Die Installation „Entrückt – mit Börsen-Mitra“ ist plakativ, aber manchmal ist das eben einfach nötig: Zwischen Schwarz und Gelb schwebt und schlafwandelt da einer über den Dingen. Schwarz? Gelb? Ein Schelm, der das Richtige dabei denkt! Das Hirn ist durch drei übereinander gestapelte Kästen ersetzt. Päpste trugen einst die Tiara, jene Dreifachkrone, welche die streitende Kirche auf Erden, die leidende Kirche im Fegefeuer und die triumphierende Kirche im Himmel symbolisierte. Darüber, wer hier streitet, leidet oder triumphiert, darf sich jeder seinen eigenen Reim machen. Kann sein, dass die goldenen Kästen Kassen sind. Das legen zumindest die Kurven nahe, die aus ihnen herausragen und die denen von Aktienkursen ähneln.
Ich habe es schon vor anderthalb Jahren in Brandenburg gesagt und wiederhole es hier: Gerhard Göschel liefert keine Rettungsrezepte. Aber er äußert sich unmissverständlich darüber, was dieser Planet nicht braucht..."
Frank Kallensee, Journalist und Kunstkritiker am 17. September 2011